Das Wunder von Ruanda

Das Wunder von Ruanda
Eine fast unglaubliche Geschichte nach einem der schlimmsten Massaker

„Wir hörten, dass die Miliz immer näher an unser Dorf herankam. Mit 60 anderen Personen flüchteten wir in den Keller einer katholischen Kirche, wo wir uns sicher wähnten. Aber die Mörder drangen in die Kirche ein und schlugen mit ihren Macheten blindwütig um sich. 45 Personen wurden sofort getötet. Ich hielt die Hand meines Mannes, als jemand auf ihn zu rannte und seinen Schädel spaltete. Das ganze Blut spritzte auf mich. Es war so schrecklich! Aber vorher hatte ich noch gehört, wie mein Mann für die Mörder betete, wie auch Jesus gebetet hatte: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‘ Dann hob der Mörder die Machete erneut und schlug mir auf den Kopf.”

So erlebte Adele Selfu aus Ruanda, Frau eines Pastors der Siebenten-Tags-Adventisten, einen der größten Völkermorde des 20. Jahrhunderts und die brutale Ermordung ihres Mannes. Was danach geschah, ist nicht weniger als ein Wunder.

Für die meisten Menschen ist Afrika ein weitgehend unbekannter Kontinent. Aber wer den Namen Ruanda hört, verknüpft damit automatisch den unvorstellbar grausamen Völkermord vor über 20 Jahren. Bis zu eine Million Menschen sollen ihm zum Opfer gefallen sein – und das bei einer Bevölkerungszahl von 7,7 Millionen.

Dieser in der Geschichte einzigartige Genozid stellte das letzte Glied in einer schon seit Jahrzehnten anhaltenden und immer weiter eskalierenden Feindschaft zwischen zwei Bevölkerungsgruppen dar: den Hutus und den Tutsis. Oft werden sie als Angehörige unterschiedlicher Stämme dargestellt. Das ist jedoch nicht ganz richtig. Tatsächlich gehören beide zu demselben Stamm. Die Namen bezeichnen vielmehr zwei Gruppen mit unterschiedlichen sozialen Stellungen innerhalb der Gesellschaft. Passender wäre hier der Begriff „Kaste“.

Es waren die Kolonialmächte, die die Abgrenzung zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen gefördert hatten. Nicht selten hatten die europäischen Mächte eine Politik des divide et impera verfolgt: Teile und herrsche. Man spielte eine Volksgruppe gegen die andere aus und beherrschte so eine relativ große Gesellschaft mit einem vergleichsweise kleinen kolonialen Mitarbeiterstab. In Ruanda war die Zuteilung zur jeweiligen Kaste durch die Herrschenden willkürlich vorgenommen worden. Als Kriterium für die Unterteilung der Gesellschaft hatte man einfach die Zahl der Rinder im Besitz einer Person zugrunde gelegt. Wer mehr als 10 Rinder besaß, war Tutsi. Wer weniger besaß, wurde als Hutu definiert. Letztgenannte waren gewöhnlich Bauern.

Schließlich wurde diese Zuordnung zu Tutsis oder Hutus dadurch zementiert und dokumentiert, dass es die belgischen Kolonialherren 1930 zur Pflicht machten, dass jeder Einwohner einen Ausweis bekam, in dem die jeweilige Zugehörigkeit zu einem der „Stämme“ eingetragen war. Um also bei dem Völkermord einen Tutsi zu finden, reichte der Personalausweis oder das Melderegister.

Als Anfang der neunziger Jahre eine politisch extremistische Hutu-Fraktion an die Regierung kam, heizten bestimmte Parteien den Hass auf die Tutsis durch Propaganda offen und gezielt an. Sie nutzten dafür beispielsweise auch Zeitschriften und Radiosendungen. Tutsis wurden als Kakerlaken bezeichnet, ihre Vernichtung offen gefordert. Es gab zunächst immer wieder kleinere Massaker. Irgendwann ließ der Schwiegersohn des Präsidenten eine große Menge Macheten aus China liefern. Diese wurden teilweise an die Hutu-Bevölkerung verteilt. Die gesamte Jugendabteilung der führenden Partei, der MRND, wurde zu einer paramilitärischen Einheit umgewandelt.

Am 7. April 1994 explodierte dann das Pulverfass. Der regierungsnahe Radiosender RTLM rief öffentlich dazu auf, alle Tutsis zu ermorden. Auslöser war ein bis heute nicht aufgeklärter Flugzeugabsturz, bei dem der damalige Präsident des Landes, Habyarimana, einen Tag zuvor ums Leben gekommen war. Habyarimana war ein Hutu. Der über den Rundfunk verbreitete Mordaufruf bildete den Auftakt zu dem schrecklichen Gemetzel, das in dem Land in den nächsten 100 Tagen ein bestialisches Blutbad ohnegleichen anrichten sollte. Das Militär und verschiedene paramilitärische Einheiten beteiligten sich an dieser Orgie des Tötens. Dazu durchkämmten sie das ganze Land, um nach Möglichkeit keinen Tutsi am Leben zu lassen.

Die Killer – die uniformierten und die zivilen – steigerten sich in einen unbeschreiblichen Blutrausch. Viele der Miliz-Angehörigen waren junge Leute, die speziell von der Regierungspartei für diesen Zweck ausgebildet worden waren. Die Morde liefen meistens nach einem bestimmten Muster ab. Wenn die Miliz ein Dorf betrat, wurden zunächst einige führende Tutsis ermordet und ihre Häuser niedergebrannt. Die lokalen Behörden gaben dann vor, die anderen schützen zu wollen und versammelten alle verbliebenen Tutsis in angeblichen Schutzräumen, meistens Kirchen. Dann beorderten sie die Mordkommandos dorthin, und diese metzelten alle Anwesenden in einer unglaublichen Blutorgie mit Macheten, Äxten und Messern nieder: Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge.

Danach wurden alle Häuser von Todesschwadronen durchkämmt, um eventuell noch versteckte Tutsis zu finden und umzubringen. Straßenbarrikaden verhinderten die Flucht, denn durch die Ausweiskontrollen konnten Tutsis problemlos identifiziert werden. Die meisten Opfer dieses Genozids starben jedoch in Kirchen. Es gab davon viele, denn 90 % der Bevölkerung Ruandas sind Christen. Sie gehören überwiegend der römisch-katholischen Kirche an.

Aber es waren nicht nur die Kommunalpolitiker, sondern auch Geistliche der großen Kirchen, die sich an dem Morden beteiligten. Sie trieben die Menschen unter dem Vorwand zusammen, sie schützen zu wollen, und lieferten sie dann den Mordkommandos aus. Mindestens 80 % der Tutsis verloren ihr Leben. Aber auch Hutus, die mit den Tutsis sympathisierten, sowie Angehörige der Minderheit der Twa wurden niedergemetzelt. Nicht wenige Opfer wurden vorher gefoltert und vergewaltigt. Ganz am Anfang wurden auch Schusswaffen verwendet. Aber Kugeln waren teuer. Deshalb wurden schon bald vor allem Macheten eingesetzt. Nur wer seine Kugel bezahlen konnte, wurde „gnädigerweise“ erschossen. (Der durchschnittliche Verdienst eines Ruanders lag damals unter 250 Dollar pro Jahr.) Im Vergleich zu der Zerstückelung durch eine Machete war dieser Tod „humaner“, wenn man in diesem Kontext solch ein Wort überhaupt in den Mund nehmen darf.

Das ganze Land wurde traumatisiert. Praktisch jede Familie war betroffen. Einem Ruandareisenden erzählte dessen Fahrer, dass er in seiner Familie der einzige Überlebende war. 47 seiner Angehörigen waren ermordet worden. Pastor Amon Rugelinyange, ein Tutsi und Leiter der Siebenten-Tags-Adventisten in Ruanda, berichtete einige Jahre später: „Ich war gerade unterwegs zum Predigen, als die Ansage durchs Radio kam, dass die Tutsis ermordet werden sollten. Zehntausende von Miliz-Angehörigen, überwiegend junge Leute, rannten durch die Straßen mit Macheten in der Hand und brachten jeden Tutsi um, den sie sahen. Es gab so viele Tote, dass sich die Leichen in den Straßen meterhoch stapelten. Der Fluss, in den man tausende Leichen warf, war regelrecht verstopft. Der Leiter einer örtlichen Kirchengemeinde, ein Hutu, versteckte mich 40 Tage lang an sieben verschiedenen Orten. Nur so wurde mein Leben bewahrt...

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