Die charismatische Bewegung

Die charismatische Bewegung
Auferstehung des Urchristentums oder Spiel mit fremdem Feuer?

Musik durchflutet die Halle. Einige der Anwesenden – besonders die kirchlichen Helfer – stellen sich gegenüber in zwei Reihen auf. Sie fassen sich bei den erhobenen Händen und bilden so einen „Feuertunnel“. Als die Konferenzteilnehmer den „Tunnel“ nacheinander passieren, legen ihnen jene, die den „Tunnel“ bilden, die Hände auf, um ihnen „den Geist“ zu übertragen. Am Ende des „Tunnels“ fallen viele von ihnen in einem ekstatischen Rausch zu Boden oder irren benommen umher. In einigen Fällen zittern und zucken sie dabei heftig und unkontrolliert. Ich bewege mich mehrmals durch den Feuertunnel. Doch merkwürdigerweise legt niemand mir die Hand auf. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass ich anschließend – im Vergleich zu den Anderen – verhältnismäßig nüchtern bin. Dennoch fühle ich mich eigenartig und ein wenig benebelt.

Die beschriebene Szene erlebte ich auf einer von zahlreichen charismatischen Versammlungen, die ich zwischen Oktober 2006 und Juni 2007 besuchte. Seit über 100 Jahren verbreitet sich das „Erweckungsfeuer“ der charismatischen Bewegung im gesamten Christentum, und zwar mit zunehmender Geschwindigkeit – und das nicht nur in Afrika und Südamerika. Zu einer Zeit, da viele Kirchenführer in westlichen Ländern eine materialistische Gott-isttot- Theologie vertreten, sammeln sich Millionen von Gläubigen auf der anderen Seite des Pendels; sie fühlen sich hingezogen zu dieser neuen Art ekstatischer Spiritualität.

Die Entstehung und Ausbreitung der pfingstlerischen Bewegung und ihres charismatischen Gegenstücks ist eine der bemerkenswertesten religiösen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Seit sie kurz nach 1900 entstand, ist sie geradezu explosionsartig gewachsen. Die Zahlen sprechen für sich: Im Jahr 1909 gab es schätzungsweise 50.000 Pfingstler, in den 1950er Jahren waren es schon mehrere Millionen. Und mit dem Einsetzen der charismatischen Bewegung in den 1960er Jahren wuchs diese Zahl noch schneller. Im Jahr 1970 gab es weltweit 72 Millionen Charismatiker (einschließlich Pfingstlern). 1990 war diese Zahl auf 452 Millionen hochgeschnellt. 2002 waren es 523 Millionen und 2005 immerhin schon 650 Millionen. Heute geht man davon aus, dass es 700 Millionen Anhänger dieser Bewegung gibt. Das sind etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung! Es gibt Schätzungen, die davon ausgehen, dass es im Jahr 2025 weltweit 811 Millionen Charismatiker geben wird. Zweifellos ist die charismatische Bewegung zu einem religiöspolitischen Machtfaktor geworden. Deshalb scheint eine Analyse ihrer Geschichte sowie ihrer Lehren, Praktiken und Ziele unabdingbar.

Die Geschichte der Bewegung wird gewöhnlich in drei Abschnitte unterteilt. Diese werden als die drei „Wellen“ des Heiligen Geistes bezeichnet. Die erste dieser Wellen ist die Pfingstbewegung. Ihre Anfänge gehen auf einen amerikanischen Prediger namens Charles Fox Parham (1873-1929) und seine Bibelschule in Topeka, Kansas, zurück. Im Januar des Jahres 1900 erhielten Parham und neun seiner Schüler das, was sie „Taufe mit dem Heiligen Geist mit dem Zeichen der Zungenrede“ nannten. Parham war davon überzeugt, dass er und seine Schüler eine Wiederbelebung des apostolischen Christentums erlebten und fingen an, eine Botschaft zu verkündigen, die Parham als „neuen apostolischen Glauben“ bezeichnete. Zentraler Punkt dieses Glaubens ist die Überzeugung, die Glossolalie oder Zungenrede – ein Sprechen unverständlicher Silben – sei der Beweis dafür, dass jemand die Taufe mit dem Heiligen Geist erhalten habe. Im Jahr 1905 gab Parham seinen Glauben weiter an einen einäugigen afro-amerikanischen Prediger namens William J. Seymour (1870-1922). Er war es, der in der Folgezeit (1906-1909) die sogenannte Azusa-Street-Erweckung im kalifornischen Los Angeles initiierte. Die Azusa-Street-Erweckung gilt im Allgemeinen als das Feuer, das die Pfingstbewegung anzündete.

Trotz ihres eindrucksvollen Wachstums wurde die Pfingstbewegung in den darauf folgenden Jahrzehnten von den großen Kirchen weitgehend ignoriert. Das änderte sich in den 1960er Jahren. Das Pfingstphänomen übersprang plötzlich die Konfessionsgrenzen, und viele Episkopale, Presbyterianer, Baptisten, Evangelikale und Methodisten fingen an, in Zungen zu reden. Diese Phase wird gewöhnlich als die „zweite Welle des Geistes“ bezeichnet. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) zog auch die römisch-katholische Kirche nach und öffnete ihre Türen für das, was als katholisch-charismatische Erneuerung in die Geschichte einging. All jene, die in dieser Phase das pfingstlerische Erlebnis der Zungenrede hatten, wurden als Neu-Pfingstler oder Charismatiker bekannt...

Cookies helfen uns bei der Bereitstellung unserer Inhalte und Dienste. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu.
Unsere Datenschutzerklärung