Licht im finstersten Mittelalter

Licht im finstersten Mittelalter
Glauben und Leiden der Waldenser

Seit drei Stunden ist Lenhart nun zu Fuß unterwegs. Die Holzschuhe haben ihn zwar sicher durch den Schnee getragen, doch seine untere Beinkleidung ist ziemlich durchnässt. Nicht, dass ihm kalt wäre – keineswegs. Die Mühe der langen Wanderung hat ihn warm gehalten, auch jetzt im Januar. Die Sonne ist gerade untergegangen, und die Halbmondsichel steht hoch am Firmament. Jetzt steht Lenhart am Fluss und beginnt, seine Kleider abzulegen. Er zieht den Mantel aus, danach die Weste. Sie behandelt er besonders vorsichtig. An einer Stelle, dort, wo das kostbare Manuskript eingenäht ist, kann er das Papier knistern hören. Lenhart muss den Fluss durchqueren, um zu seinem Ziel zu kommen. Deshalb zieht er sich völlig aus und macht aus seinen Kleidern ein Bündel, das er hoch über den Kopf hebt. Er ist nackt und schaudert. Er weiß, was jetzt kommt. Er tut dies nicht zum ersten Mal. Doch er hat keine Wahl: Wenn er sein Ziel erreichen will, muss er diese Tortur auf sich nehmen. Und so durchquert er den Fluss. Dieser ist hier nur einige Meter breit. Doch als das Wasser seine Lenden erreicht, greift die Kälte mit eisiger Hand nach seinem Herzen. Sein Atem geht stoßweise und schnell. Auf keinen Fall will er ausgleiten, vor allem wegen des verborgenen Manuskripts.

Lenhart spürt seine Füße kaum noch. Er beeilt sich. Das andere Ufer ist schon nahe. Wie tausend Nadeln sticht es in seinen Beinen. Als er endlich hindurch ist, fühlt er den Boden nicht mehr. Seine Zehen sind taub. Er reibt seine Unterschenkel und Füße mit Schnee ab, trocknet sich mit einem mitgebrachten Tuch und legt seine Kleider wieder an. Dann setzt er seinen Weg fort. Er erreicht sein Ziel nach einer weiteren Viertelstunde. Es ist die einsame Hütte eines Köhlers tief im Wald. Dort ist es warm. Das weiß Lenhart und darauf freut er sich.

Nur am Rauch kann man erkennen, dass hier jemand lebt. Kein Licht dringt nach außen. Lenhart klopft. „Wer ist da?“ Lenhart nennt seinen Namen. Die Tür öffnet sich. Als der Hausherr den Nachtwanderer erkennt, zieht er ihn schnell in den warmen Raum und schließt die Tür hinter ihm. Die beiden Männer und auch die Familie des Köhlers freuen sich über das Wiedersehen; man schätzt sich. Und Lenhart schätzt vor allem die warme Suppe, die ihm sogleich vorgesetzt wird.

Nach dem Essen bittet er um ein Messer. Er beginnt, den Saum seiner Weste aufzutrennen. Als die Öffnung groß genug ist, greift er hinein und zieht ein Manuskript heraus. Er behandelt es sorgfältig, ja, mit Ehrfurcht. Als sich die sechsköpfige Familie in der Runde niedergelassen hat, beginnt Lenhart, aus dem Manuskript vorzulesen. Er liest in der Volkssprache: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden …“

So sitzen sie und lesen, lesen und besprechen – bis lange nach Mitternacht. Lenhart weiß, dass er sich spätestens drei Stunden nach Mitternacht wieder auf den Rückweg machen muss. Er liebt die Dunkelheit des Winters. Sie ist sein Schutz, denn sie verbirgt ihn vor jenen, die ihn verfolgen, weil er das Wort Gottes in der Sprache des Volkes liest. Lenhart ist ein Leonist, ein verfemter Ketzer. Andere nennen solche Leute auch Waldenser. Die Menschen seiner Nachbarschaft wissen nicht, dass er etliche seiner Nächte auf solche Weise verbringt. Wäre es bekannt, würde Lenhart das nicht lange überleben im Babenberger Land dieses 13. Jahrhunderts. In seinem normalen Leben ist er Gerber von Beruf, allerdings ein besonderer Gerber: Er kann lesen. Und er arbeitet im Verborgenen: vorsichtig, im Dunkeln. Doch in seinem Herzen ist es hell. Er lebt seinen Wahlspruch Lux lucet in tenebris, Licht leuchtet in der Finsternis. Und tatsächlich lässt er sein Licht leuchten …

Diese fiktive Schilderung lässt lebendig werden, was einer der damaligen Gegner der Waldenser nur andeutet: Wenn einer der „perfiden Leonisten ... einen Menschen ... bekehren will, dann schwimmt er sogar zur nächtlichen Winterzeit durch den Ybbs-Fluss zu ihm.“

Was waren das für Menschen, die für ihre Glaubensüberzeugung bereit waren, die schlimmsten Strapazen, Armut, Verfolgung und sogar den Märtyrertod auf sich zu nehmen?

Die Waldenser alter Zeit waren nach Darstellung des Kirchenhistorikers Dr. theol. Richard Müller eine Reformationsbewegung, die aus einzelnen Personen, kleinen Gruppen und Kirchengemeinden bestand. Sie lebten in den Alpentälern, in Südfrankreich, aber auch in Spanien, der Picardie, Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz, Böhmen, Mähren, Österreich und dem nordöstlichen Polen. Sie waren ein Volk, das versuchte, in seinem Kampf gegen falsche Lehren der allmächtigen römischen Kirche zu überleben. Es gab keine hierarchische Struktur, die diese Nachfolger Christi zusammenhielt. Was diese Leute zusammenschmiedete, war die Überzeugung, für die Wahrheit zu „kämpfen“, egal was es kosten würde, selbst wenn es der Tod sein sollte.

Die Inquisition hat versucht, die innere Einheit dieser Gruppen zu leugnen. Es liegt jedoch nahe – wie aus anderen Fällen der Vergangenheit und Gegenwart bekannt –, dass es im Interesse der herrschenden Machthaber lag, die Darstellung der Umstände zu ihren Gunsten zu beschönigen. Der Widerstand gegen die Staatskirche musste heruntergespielt und als Auswuchs einzelner Abtrünniger dargestellt werden. Die Vernichtung von Quellen durch Bücherverbrennungen kam dieser Motivation entgegen. Das erklärt sicher auch gewisse Widersprüche in der Geschichtsschreibung der Waldenser...

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