Die Waldenser

Die Waldenser
Märtyrer der vorreformatorischen Zeit

Seit drei Stunden ist Lenhart nun zu Fuß unterwegs – im Bistum Passau des Herzogtums Österreich des 13. Jahrhunderts. Die Januarkälte macht ihm nichts aus, die anstrengende Wanderung hat ihn warm gehalten. Inzwischen ist die Dunkelheit hereingebrochen. Jetzt hält er am Flussufer der Ybbs, einem Zufluss der Donau, inne und beginnt, seine Kleider abzulegen. Was hat er vor? Er zieht den Mantel aus, danach die Weste, die er mit besonderer Vorsicht handhabt. An einer Stelle kann er Papier knistern hören – ein verborgenes, in die Weste eingenähtes Manuskript. Lenhart muss den Fluss durchqueren. Er hat keine Wahl: Wenn er sein Ziel erreichen will, muss er diese Tortur auf sich nehmen. Und so steigt er mit innerem Schaudern splitternackt in die bitterkalten Fluten, sein Kleiderbündel über den Kopf haltend. Der Fluss ist hier nur einige Meter breit. Doch als das Wasser seine Lenden erreicht, greift die Kälte mit eisiger Hand nach seinem Herzen. Sein Atem geht stoßweise und schnell. Auf keinen Fall will er ausgleiten, vor allem wegen des verborgenen Manuskripts.

Lenhart spürt seine Füße kaum noch. Wie tausend Nadeln sticht es in seinen Beinen. Als er endlich am Ufer anlangt, sind seine Zehen ganz taub. Er reibt seine Unterschenkel und Füße mit Schnee ab, trocknet sich mit einem mitgebrachten Tuch und legt seine Kleider wieder an. Kurze Zeit später erreicht er die einsame Hütte eines Köhlers tief im Wald. Lenhart freut sich, denn dort wartet eine warme Stube und eine warme Suppe auf ihn.

Der Nachtwanderer klopft und wird, nachdem er seinen Namen genannt hat, schnell in die Hütte gezogen und herzlich willkommen geheißen. Er ist nicht das erste Mal hier. Nach dem Essen beginnt er, mit einem Messer den Saum seiner Weste aufzutrennen, um vorsichtig – ja, voller Ehrfurcht! – das versteckte Manuskript herauszuziehen. Dann beginnt Lenhart der versammelten Familie daraus vorzulesen – in der Volkssprache: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden …“ (Apostelgeschichte 4,12)

Bis lange nach Mitternacht sitzen sie zusammen, lesen und besprechen das Gehörte. Spätestens drei Stunden nach Mitternacht muss sich Lenhart wieder auf den Rückweg machen. Die Dunkelheit des Winters ist sein Schutz, denn sie verbirgt ihn vor jenen, die ihn verfolgen, weil er das Wort Gottes in der Sprache des Volkes liest. Lenhart ist ein sogenannter Leonist, ein geächteter Ketzer. Andere bezeichnen solche Leute auch als Waldenser. Die Menschen in seiner Nachbarschaft wissen nicht, dass er häufig seine Nächte auf diese Weise verbringt. Wäre es bekannt, würde Lenhart das nicht lange überleben. Deshalb arbeitet er im Verborgenen: vorsichtig, im Dunkeln. Doch in seinem Herzen ist es hell. Er lebt seinen Wahlspruch: Lux lucet in tenebris, Licht leuchtet in der Finsternis. Und tatsächlich lässt er sein Licht leuchten …

Diese fiktive Schilderung lässt lebendig werden, was einer der damaligen Gegner der Waldenser nur andeutet: Wenn einer der „perfiden Leonisten … einen Menschen … bekehren will, dann schwimmt er sogar zur nächtlichen Winterzeit durch den Ybbs-Fluss zu ihm.“1

Was waren das für Menschen, die für ihre Glaubensüberzeugung bereit waren, die schlimmsten Strapazen, Armut, Verfolgung und sogar den Märtyrertod auf sich zu nehmen?

Die Waldenser alter Zeit waren nach Darstellung des Kirchenhistorikers Dr. theol. Richard Müller eine Reformationsbewegung, die aus einzelnen Personen, kleinen Gruppen und Kirchengemeinden bestand. Sie lebten in ganz Europa verstreut – in den Alpentälern, in Südfrankreich, aber auch in Spanien, der Picardie, Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz, Böhmen, Mähren, Österreich und dem nordöstlichen Polen. Sie waren ein Volk, das versuchte, in seinem Kampf gegen falsche Lehren der allmächtigen römischen Kirche zu überleben. Was diese Nachfolger Christi zusammenschmiedete, war die Überzeugung, für die Wahrheit zu „kämpfen“, egal was es kosten würde, selbst wenn es der Tod sein sollte.2

Die damals herrschende Klasse hat versucht, den inneren Zusammenhalt dieser Gruppen zu leugnen, den Widerstand gegen die Staatskirche herunterzuspielen und als Auswuchs einzelner Abtrünniger darzustellen. Um die Faktenlage zu verschleiern, waren die damals gängigen Bücherverbrennungen eine willkommene Methode der Quellenvernichtung. Das erklärt sicher auch gewisse Widersprüche in der Geschichtsschreibung der Waldenser.

Auch wenn häufig Peter Waldo (12. Jh.) als der Namensgeber und Begründer der Waldenser genannt wird, gibt es etliche Hinweise auf einen früheren Ursprung. Ihr Name stammt wohl eher von dem Wort „Tal“ als Beschreibung ihres Wohngebietes in den unzugänglichen Hochgebirgstälern der Alpen ab.3 Die verschiedenen Sprachen machen diese Ableitung deutlich: Valdesi (Italienisch), Valdenses (Lateinisch), Vaudes (Provenzalisch), Vaudois (Französisch). Es gibt ein sehr umfangreiches Werk über die Geschichte dieser Volksgruppe, das von Johan Leger (1615–~1670) stammt, der als Pastor und Superintendent der Waldenser tätig war. Er präsentiert eine umfangreiche Sammlung von Quellen, von denen einige die Ursprünge dieser Vorläufer des Protestantismus bis in das 9. und 8. Jh. zurückverlegen, einige sogar bis auf die Zeit Papst Silvesters I. (314–335). Damals herrschte Kaiser Konstantin der Große (306–337). In dieser Zeit hatte die Kirche angefangen, sich mit der heidnischen Religion zu arrangieren, und war Kompromisse eingegangen. 4 Dennoch gab es Gruppen von Gläubigen, die an der ursprünglichen apostolischen Lehre festhielten und sich für Religionsfreiheit einsetzten. Es ist nicht auszuschließen, dass der Druck der Staatskirche sie schon damals zum Rückzug in unzugänglichere Gegenden zwang.

 

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