Die Postmoderne Reformation

Die Postmoderne Reformation
Fortschritt oder Rückschritt?

Das Denken der Postmoderne hat eine Entwicklung eingeleitet, bei der manche entscheidenden Säulen und Werte der Reformation nicht nur in Frage gestellt, sondern ins Gegenteil verkehrt werden. Eine Öffnung gegenüber dem Mystizismus, eine neue Theologie und die Vermischung mit anderen Weltreligionen sind die Folge.

Ein Hauptmerkmal der protestantischen Reformation im 16. Jahrhundert war die Wiederherstellung der Autorität der Bibel. Für die Reformatoren hatte die Bibel den gleichen hohen Stellenwert wie für Jesus, der sagte: „Dein Wort ist die Wahrheit.“ (Johannes 17,17)

Die Zeitepoche der Moderne, an deren Beginn die protestantische Reformation stattfand, dauerte vom 16. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Für Wissenschaft und Theologie stand damals fest, dass es eine objektive Realität gibt sowie eine objektive und absolute Wahrheit und dass in sich schlüssige Erklärungsmodelle (sogenannte Meta-Erzählungen) formuliert werden können, um Aspekte der Natur, der Geschichte, der Ethik oder des Lebens übergreifend in einem Weltbild zu erklären.

Diese Merkmale passen zum Selbstbild der Bibel, denn die Bibel beschreibt eine objektive Realität, beinhaltet eine absolute Wahrheit und legt eine übergreifende Erklärung zur Herkunft, Gegenwart und Zukunft der Menschheit in Form einer Meta-Erzählung vor, wie z. B. die „Erlösungsgeschichte des Menschen“.

Nach der Moderne folgte ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Postmoderne. Die Fundamente der Moderne, also Begriffe wie objektive Wahrheit und Meta-Erzählung, werden jetzt abgelehnt. Die Encyclopedia Britannica sagt: „Postmodernisten bestreiten … dass es möglich ist, gewisse Dinge mit Sicherheit wissen zu können und dass es objektive oder absolute moralische Werte gibt. Die Realität, das Wissen und die Werte werden durch Diskurse konstruiert, also können diese entsprechend auch wieder verändert werden.“ Der postmoderne Philosoph Lyotard stellt fest, dass man, vereinfacht gesagt, „den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt“. Daher besitzt die Bibel aus Sicht der Postmoderne keine Autorität mehr.

Wie sollen Christen auf die Postmoderne reagieren? Sollen sie entgegen aktuellen Gesellschaftstrends die Grundsätze der protestantischen Reformation und die Autorität der Bibel weiter hochhalten? Oder müssen sie, um relevant zu bleiben, sich an die Postmoderne anpassen und eine postmoderne Reformation durchführen? Die Emerging-Church-Bewegung hat den letzteren Weg gewählt.

Emerging Church – die postmoderne Reformation
Der englische Begriff „Emerging Church“ bezeichnet nicht eine neue Kirche, sondern beschreibt eine philosophische Strömung im Christentum, bei der Lehre und Glaubenspraxis in vorhandenen Kirchen im Sinne der Postmoderne neu definiert werden. Leonard Sweet, einer der prominentesten protestantischen Emerging- Church-Vertreter, fordert als Reaktion auf das „postmoderne Erdbeben“ eine „postmoderne Reformation“ und sagt: „Erfinde dich neu für das 21. Jahrhundert oder stirb!“ Andere Emerging-Church-Autoren heißen ebenfalls einen Wandel willkommen, in dem förmlich das Christentum neu definiert wird. Buchtitel wie A new Kind of Christian [Eine neue Art des Christ seins] von Brian McLaren zeigen deutlich die Richtung. Dieser Wandel ist ein Paradigmenwechsel von historischem Ausmaß. Die Philosophie der Emerging Church wird heute von vielen verschiedenen Kirchen unterstützt.

Die einflussreichste „radikale Richtung“ (engl. Revisionists) der Emerging Church möchte Lehre und Theologie durch postmoderne Sichtweisen verändern – zusätzlich zu der Veränderung von Musik und Worship-Stil der „gemäßigten Richtung“ (engl. Relevants). Bemerkenswerterweise wird der Mystik bei dieser Neuausrichtung eine starke Rolle zugeschrieben. Sweet schreibt: „Der Mystizismus, der ehemals in den christlichen Kirchen in den Hintergrund gedrängt worden war, befindet sich jetzt in der postmodernen Kultur an einer ganz zentralen Stelle … Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein … Der Mystizismus nimmt seinen Anfang in der Erfahrung; die Theologie ist der letzte Schritt.“ Die mystische Erfahrung wird als ein „vollständiges Eintauchen der Sinne in das Göttliche … eine Begegnung mit einem Gott, den man fühlen, schmecken, berühren, hören und riechen kann“, beschrieben.

Die postmoderne Reformation durch die Emerging-Church-Bewegung wirft die Fragen nach der Autorität der Bibel für Christen, dem Umgang mit Mystizismus und der Theologie auf.

Die Frage der Autorität
In der Prä-Moderne (600–1500) galt im Katholizismus, dass Kirche und Tradition die höchsten Autoritäten seien. Auch die Liturgie und die Mystik spielten eine wichtige Rolle als Vermittler von Erfahrungen und Gefühlen. Diese Sichtweise ist in der katholischen Kirche bis heute unverändert geblieben.

In der Moderne (1500–1950) erhoben die Reformatoren mit dem Grundsatz Sola Scriptura („allein die Schrift“) die Bibel wiederum zur höchsten Autorität. Zugleich nahm man Abstand von vielen liturgischen Formen und vom Mystizismus. Im 17. Jahrhundert fand in der Aufklärung ein Paradigmenwechsel statt, indem die menschliche Vernunft zur höchsten Autorität erklärt wurde. Die Auswirkungen zeigten sich zunehmend auch in der protestantischen Theologie, beispielsweise in Form der „historisch-kritischen Methode“ der Bibelkritik.

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