War Martin Luther ein Prophet?
Über einen gern verheimlichten Anspruch des Reformators
Was genau ist ein Prophet? Allgemein – und vor allem im Umfeld des Religiösen – versteht man darunter eine Person, die von Gott oder einem „höheren Wesen“ auf übernatürliche Weise kontaktiert wurde, um die Funktion eines Sprachrohrs wahrzunehmen. Der Prophet spricht für Gott oder das höhere Wesen und dient als Mittler zwischen der Welt des Jenseits und den Menschen im Diesseits. Oft betreffen seine Botschaften zukünftige Ereignisse.
Da das Übernatürliche bzw. das Jenseits per Definition nicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein können, lässt sich der Anspruch wahrer Prophetie in der Regel nur schwer erhärten. Diese Tatsache einerseits und der große Respekt vor Gott und die Autorität des Göttlichen andererseits haben in der Geschichte immer wieder zu Missbrauch in Verbindung mit dem Anspruch des Prophetenamtes geführt. In vielen Kirchen und Religionen treten – auch heute noch – falsche Propheten auf, und zwar allein schon deshalb, weil es so leichter und bequemer ist, den eigenen Willen durchzusetzen und Macht auszuüben.
Propheten – oder zumindest den Anspruch des Prophetentums – gab es (und gibt es) u. a. im Judentum, im Christentum, dem Islam, im Griechenland des Altertums und in der altpersischen Religion des Zoroastrianismus. Was viele Protestanten nicht wissen und was evangelische Theologen und Kirchenhistoriker gern verheimlichen: Auch Martin Luther hat für sich beansprucht, ein Prophet zu sein. In den Anfangstagen der evangelischen Kirche war das jedoch kein Geheimnis.
Fast alle protestantischen Gelehrten der damaligen Zeit glaubten, dass Dr. Martin Luther ein Prophet sei. Dabei ist es nicht etwa so, dass man versuchte, ihm im Nachhinein prophetische Aussagen in den Mund zu legen. Luther selbst bezeugte diesen Anspruch in vielen seiner Schriften: „Weil ich der Deutschen Prophet bin – denn solchen hoffertigen Namen muss ich mir hinfort zumessen, meinen Papisten und Eseln zu Lust und Vergnügen –, so will mir gleichwohl als treuer Lehrer gebühren, meine lieben Deutschen zu warnen vor Schaden und Gefahr etc.“
Martin Luther sah sich als Warnrufer Gottes im alttestamentlichen Stil. Wie die Propheten Israels, so sein Anspruch, wachte er über den Deutschen, warnte vor den Folgen ihres verkehrten Handelns und rief sie zur Buße.
Für ihn waren die Anhänger des Papstes deshalb Esel, weil sie die Überzeugung vertraten, Luther gebe sich mit seinem Anspruch, ein Prophet zu sein, eine neue Blöße. Mit dieser Behauptung habe man nämlich, so Luther in der unterstellten Argumentation der Katholiken, eine weitere Möglichkeit, die Evangelischen mit neuen Argumenten zu bekämpfen und dem Volk zu zeigen, dass sich der rebellische Mönch nunmehr als Verführer selbst entlarve. – In Wirklichkeit, so Luther, sei sein Prophetenanspruch keine Schwäche, sondern ein Amt, das Gott ihm zum Nutzen Deutschlands verliehen habe.
Dieser Anspruch rückte ihn in die Nähe biblischer Propheten und stellte ihn mindestens auf die gleiche Stufe mit dem Papst. Glaubten die Katholiken, ihr Oberhaupt sei ein Sprachrohr des Heiligen Geistes, trat Luther nun mit dem Anspruch auf, Gott rede durch ihn. Eine scharfe Konfrontation war somit unvermeidlich.
Die Menschen der damaligen Zeit, so Luther, sollten nun entscheiden, wer von den beiden Religionsführern wirklich von Gott geleitet werde und damit die Autorität in Glaubensfragen sei. Der Papst führte seinen Autoritätsanspruch auf den Apostel Petrus zurück. Luther fand eine solche Argumentation mehr als fragwürdig, zumal die Kirche die Beweise schuldig blieb, dass das Papsttum tatsächlich auf Petrus zurückgeführt werden könne und Gott sich in seinen Offenbarungen nur auf den Stuhl des Bischofs von Rom beschränken ließe.
Wie die Männer des Alten Testaments litt auch Martin Luther manchmal unter seinem (angemaßten oder auch nicht angemaßten) Amt, das er als prophetische Gabe bezeichnete. Er fühlte sich von Gott berufen, die Menschen auf ihre Verfehlungen und ein kommendes Gottesgericht hinzuweisen: „Es ist kein Scherz, und mir graut vor unseren Sünden. Ich bin auch nicht gern ein Prophet, denn gewöhnlich erfüllt sich, was ich weissage.“...